Warum Gott Mensch wurde
(vgl. den Blog-Beitrag vom 4.12.19 auf der Webseite von LET)
Eines Tages war der alte englische Lord mit seinem kleinen Sohn in den Wald gegangen. Sie schritten zwischen den mächtigen Bäumen hindurch. Der Lord hatte beschlossen, alle Bäume fällen zu lassen. Schon bald würde man hier das Klingen der Äxte und den Lärm der Motorsägen hören. Dieser Wald hatte seine Zeit gehabt. Alles würde neu werden.
Der Sohn war vor einem Ameisenhaufen stehen geblieben. Interessiert beobachtete er das emsige Treiben der kleinen Tierchen. Alle waren sehr beschäftigt. Einige schleppten Tannennadeln, andere Holzstückchen, die größer waren als sie selbst. Wieder andere liefen nur hin und her und man konnte nicht erkennen, was ihre Aufgabe war.
„Was wird mit ihnen passieren?“ Der Sohn sah zu seinem Vater auf.
„Auch für sie wird es ein Ende hier haben, wenn wir den Wald roden.“
„Aber das müssen wir ihnen doch unbedingt sagen!“ protestierte der Sohn.
Der Lord schaute fragend: „Ihnen sagen? Wie wollen wir denn den Ameisen sagen, dass es mit dem Wald und mit ihrer kleinen Welt, dem Ameisenhaufen, zu Ende geht?“
„Ich weiß es!“, rief der Junge aufgeregt. Er hatte einen großen Stein entdeckt, den er aufhob und mitten in den Ameisenhaufen fallen ließ.
„Was tust du da?“, rief der Lord. „Du zerstörst ja alles!“
„Nicht alles. Ich weiß, es ist schlimm für sie. Aber ich muss sie doch irgendwie warnen vor der schrecklichen Katastrophe, die ihnen bevorsteht!“
Auf dem Ameisenhaufen war inzwischen das Chaos ausgebrochen. Aufgeschreckt liefen die kleinen Tierchen hin und her. Der Stein war tief in den Ameisenhaufen eingedrungen.
„Ich bin gespannt, was jetzt passiert!“ Interessiert beobachtete der Junge die Tiere.
„Komm, lass uns weitergehen“, drängte der Lord. „Auf dem Rückweg können wir hier noch mal vorbeikommen.“ Zögernd ging der Junge mit.
Als die beiden nach geraumer Zeit wieder zum Ameisenhaufen kamen, hatte sich die Aufregung dort schon wieder gelegt. Von der Zerstörung war kaum mehr etwas zu sehen. Der Stein war eingebettet in die Ameisenwelt. Das Ameisenleben ging wieder seinen gewohnten Gang.
„Sie haben nichts begriffen!“, rief der Junge aus. „Alles ist wie vorher!“
Er schaute nachdenklich in den Ameisenhaufen und sagte dann leise: „Wahrscheinlich müsste ich eine Ameise werden, damit sie verstehen, was ich ihnen sagen will.“
Der Lord sah seinen Sohn an.
„Ja, ich müsste ganz klein werden. Einer von ihnen. Müsste ihre Sprache sprechen, in ihrer Welt leben, damit ich sie retten kann.“
„Ja“, nickte der Lord, „das wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit. Aber ob sie dir dann glauben würden? Ob sie dir glauben würden, dass du mein Sohn bist, und ob sie glauben würden, dass du weißt, was mit dem Wald und mit ihrer kleinen Welt passieren wird?“
„Man müsste es versuchen“, sagte der Sohn.
„Ja“, nickte der Lord, „man müsste es versuchen.“